Herkömmliche Materialnachschub-Konzepte werden der steigenden Komplexität, Flexibilität und Variantenvielfalt in der industriellen Produktion immer weniger gerecht. Die derzeitige, meist manuelle Erfassung des Materialbedarfs ist zu unflexibel, nicht zeitnah genug und zudem viel zu aufwendig. Mehr Effizienz verspricht ein automatisiertes Materialnachschub-System von WSN Technologies, welches die MDC Power GmbH, eine Tochter der Daimler AG, derzeit in ihrem Motorenwerk in Kölleda/Thüringen erprobt.
Der Materialnachschub an industriellen Montagelinien erfolgt bisher meist händisch durch Mitarbeiter. Die Datenerfassung ist oft unsicher, zeitverzögert und fehlerbehaftet. Der Materialbedarf wird dabei beispielsweise durch Mitarbeiter, die sogenannten Line-Runner, in größeren Zeitabständen erfasst. „Manchmal können zwischen den Bedarfsermittlungen mehrere Stunden vergehen, was durch einen entsprechend erhöhten Materialmehrbestand vor Ort kompensiert werden muss. Setzt man die Erfassungsperioden hingegen kürzer an, führt dies zu einem entsprechend höheren Bedarf an Personal“, analysiert die Hochschule Osnabrück in einer Studie („Aktueller Stand der Entwicklung und Einsatz von elektronischen Kanban-Systemen (eKanban) per AMS“).
Der Projektleiter Prof. Dipl.-Ing. Wolfgang Bode folgert, dass konventionelle Materialnachschub- Konzepte weder die Gefahr von unnötigen Material-Überbeständen am Band noch die Gefahr der Materialunterversorgung mit möglichem kostenintensiven Bandstillstands-Zeiten ausschließen.
Manuell organisierte Materialnachschub-Bestellungen treten erfahrungsgemäß stark gehäuft jeweils zu Beginn einer Schicht auf mit entsprechenden Belastungsspitzen. Dabei werden sowohl das Nachschublager als auch die Materialfluss-Staplern zusätzlich belastet, wodurch weitere unnötige Kosten und Fehler entstehen.
Vorteile einer eKanban-Lösung
Laut der Studie bietet eine funkgestützte eKanban-Lösung dagegen den Vorteil, dass ein Materialbedarf immer sofort, wenn er beispielsweise im Kleinladungsträger-Regal entsteht, in Realzeit per Funk an das Lager zur Ausführung gemeldet wird. Ein solches eKanban-Konzept wird aktuell durch WSN Technologies AG aus Braunschweig in der Motorenfertigung eines großen deutschen Automobil-Herstellers umgesetzt. „Wir haben uns als deutsches Unternehmen auf IoT- Industrieanwendungen spezialisiert. Für ein solches Projekt sind Erfahrungen in der Hochfrequenztechnik, bei der Vernetzung von Embedded Devices sowie beim Hardwaredesign, der mechanischen Konstruktion bis zur Firmware- und Applikationsentwicklung erforderlich“, beschreibt Christoph Schwieter, Vorstand der WSN Technologies AG, die komplexen Anforderungen des Projekts.
Bei der Pilotinstallation des Motorenherstellers überwachen 300 Funksensoren die einzelnen Stellplätze in Kleinladungsträger-Regalen (KLT-Regale). Sind die Stellplätze der Nachschubbehälter belegt, erkennt der Sensor „ausreichender Bestand am Montageort vorhanden“. Wird ein Materialbehälter entnommen, erkennt der Sensor „Kein ausreichender Nachschubbestand vorhanden“ und meldet die Statusänderung sofort in Realzeit per Funk an das Materialverwaltungssystem. Hier wird die Meldung als Bedarf für Materialnachschub erkannt und automatisch eine Materialanforderung ausgelöst.
„Bei der Entwicklung einer geeigneten technischen Umsetzung zur Belegungserkennung mussten vor allem drei Herausforderungen gelöst werden“, berichtet Jörn Lembke, Leiter Produktmanagement bei WSN.
Die erste Herausforderung des Projekts galt der zuverlässigen Erkennung des Materialbestands in einem manchmal rauen industriellen Umfeld. Für die Erfassung der standardisierten Kunststoffboxen als Kleinladungsträger wurden die Sensoren an auswechselbaren Trägerschienen mit Rollen montiert (Rollenbahnsensoren). Wird das KLT-Regal bei einer Fertigungsumstellung umgerüstet, lassen sich die Sensor-Trägerschienen im Regal sehr einfach und schnell umstecken. Dabei wurde auf die Kompatibilität zu den gängigen Durchlauf-Regalsystemen von SSI Schäfer, Bito, ITEM, Creform, META oder Trilogiq geachtet. Die eindeutige Zuordnung der einzelnen Sensoren zum Material im Kleinladungsträger erfolgt wahlweise entweder in der Software des Materialnachschub- Steuerungssystems (AMS) oder über das ERP-System.
Zusätzlich wurde für die Materialanforderung von Großladungsträgern (GLT) ein ebenfalls per Funk angebundener Materialabruf-Taster (Call Button) entwickelt. Er ist, ähnlich wie ein E-Book-Reader, mit einem sehr gut lesbaren und extrem stromsparenden E-Ink-Display ausgestattet.
Funkübertragung für IoT-Industrieanwendungen
Die zweite, größere Herausforderung galt der störungsfreien Funkübertragung in der über
50.000 qm großen Fertigungshalle des Industrieunternehmens. Ausgewählt wurde mit LoRa (Abkürzung für „Long Range“) eine Low-Power-Wireless-Technologie, die speziell für die energieeffiziente Kommunikation im Internet der Dinge (IoT) konzipiert wurde. Auf der Basis von LoRa entwickelte WSN eine hinsichtlich der speziellen Anforderungen optimierte Funktechnologie: das WSNet.
WSN nennt als maßgebliche Vorteile des WSNet für IoT-Industrieanwendungen:
» WSNet sendet im lizenzfreien ISM-Band (Industrial, Scientific and Medical Band), bei Projekten in Europa im Frequenzbereich 433 bzw. 868 MHz;
» mit einem Stromverbrauch bei Endgeräten von lediglich 10 mA und 100 nA im Ruhemodus arbeitet das WSNet besonders energieeffizient;
» trotz des geringen Energiebedarfes ermöglicht die Funktechnologie etwa 20-mal höhere Reichweiten und eine wesentlich bessere Durchdringung in Gebäuden als bestehende Technologien, wie etwa WLAN;
» die Datenübertragung ist durch eine zweifache AES-128-Verschlüsselung abgesichert;
» aufgrund der vereinfachten sternförmigen Topologie erfordern die Installation und Wartung nur minimale Eingriffe in das bestehende Unternehmensnetz
Im Automotive-Projekt wurde die WSNet-Funktechnologie nochmals für die spezifischen Anforderungen des Materialnachschub-Konzepts erweitert. Durch die Anpassung der Software und durch die optimale Anordnung der Antennen auf der selbst entwickelten Platine wurden Stromverbrauch und Funk-Reichweite nochmals optimiert. So konnte für die Übertragung in einer Industriehalle eine Reichweite von bis zu 1.000 m ermöglicht werden bei einer Batterielaufzeit des Regalsensors von ca. 18 Monaten. Dabei ist die Störungsanfälligkeit gegenüber anderen Funksignalen gering, sodass „Funklöcher“ und instabile Verbindungen nicht auftreten. Außerdem konnte der administrative Aufwand für die gleichzeitige Einbindung einer Vielzahl von Sensoren minimiert werden.
Für die Kommunikation der aktuell 300 Sensoren reicht ein Gateway. „Wir erwarten, dass wir die Kommunikation von mehr als 1.000 Sensoren über ein einziges Gateway abwickeln können“, so Lembke. Vergleichbar mit der Einrichtung einer neuen SIM-Karte bei einem Mobilfunkprovider müssen üblicherweise auch in einem Low Power Wide Area Network (LPWAN) bestimmte Daten wie die Geräte-ID oder Funkparameter vorkonfiguriert werden. Dieser Aufwand der Provisionierung entfällt im Falle des WSNet fast vollständig und wird daher auf ein Minimum reduziert. „Wir haben das so gelöst, dass sich die Sensoren nach dem Einschalten automatisch an einem Gateway anmelden“, erläutert Jörn Lembke.
Wo beispielsweise bei WLAN jeder Sensor eine eigene IP-Adresse im Adressraum des LAN benötigt, muss nur für das Gateway eine eigene IP-Adresse zugeteilt werden. Die Funksensoren benötigen selbst keine IP-Adressen. All dies reduziert den Konfigurationsaufwand erheblich und schließt Engpässe im privaten IP-Adressraum von vorneherein aus.
Auch die gleichmäßige Verteilung des Funkverkehrs über das gesamte Frequenzband erfolgt im WSNet automatisch. „Das heißt, das System verteilt den Funkverkehr intelligent auf die knappe Ressource Funkkanäle, ohne selbst durch die Regelung nennenswert Funkverkehr zu erzeugen“, berichtet der Leiter Produktmanagement.
Die Daten sind aus Sicht des WSN-Experten bei der Funkübertragung gut geschützt. Das Gateway befindet sich hinter der Unternehmens-Firewall und ist nur unter Nutzung aktueller Sicherheitsmechanismen aus dem Internet erreichbar. Die Übertragung ist durch das proprietäre Funkprotokoll sowie durch die AES-Verschlüsselung auf der Hardwareebene und zusätzlich auf der Software-Protokollebene abgesichert.
Kurze Amortisationszeit durch AMS-Lösung
Die dritte Herausforderung war die Einbindung in ein Materialverwaltungssystem. Gelöst wurde dies durch ein automatisiertes Materialnachschub-Steuerungssystem (AMS). Das AMS sorgt in Verbindung mit den Sensoren und der Funkübertragung dafür, dass der Materialfluss gleichmäßiger und wesentlich effektiver organisiert werden kann. Das benötigte Material wird durch das AMS in der richtigen Menge und zum erforderlichen Zeitpunkt bereitgestellt.
In der Datenbank wird registriert, wann welches Material angefordert und geliefert wurde. Das System visualisiert den Status der einzelnen Lagerstellplätze, zeigt den Bestand und die bisherigen Bestellungen. Darüber lassen sich auch Produktions-Chargen nachverfolgen.
WSN-Vorstand Schwieter verweist für eine ROI-Betrachtung auf eine Kosten-Nutzen-Berechnung der Hochschule Osnabrück: „Die Hochschule hat die eKanban-Lösung bewertet und die größten Effekte bei der Einsparung der Line-Runner und der Reduzierung der Fehler bzw. deren Korrektur-Prozesse identifiziert.“ In der Berechnung wird der Investitionsaufwand mit den errechneten jährlichen Vorteilen verglichen. Daraus „ergibt sich ein betriebswirtschaftlich überaus positives Ergebnis, in dem mit der eKanban-Lösung eine sehr kurze Amortisationszeit erreicht wird“, so die Kosten-Nutzen- Berechnung der Hochschule.
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Autor: Martin Ortgies, Fachjournalist aus Hannover